Was Deutschlands neue Rolle im Welthandel bedeutet – verständlich, relevant, auf den Punkt.
Von LAURA HÜLSEMANN
Mit ROMANUS OTTE und TOM SCHMIDTGEN
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TOP-THEMEN |
— Der Kanzler fordert eine neue Strategie für die Zoll-Verhandlungen mit den USA. Es gelte: Keep it simple.
— Das Kabinett verabschiedet heute den Haushalt. Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur werden hochgefahren.
— Bund und Länder haben sich beim Investitions-Booster offenbar geeinigt.
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THEMA DES TAGES |
MERZ WILL DEN DEAL: Friedrich Merz fordert eine neue Strategie für die Zoll-Verhandlungen zwischen der EU und den USA. „Diese Europäische Union verhandelt viel zu kompliziert“, sagte er beim „Tag der Industrie“ des BDI. POLITICO ist Medienpartner.
Gepäck für EU-Gipfel: Dies werde er gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am Donnerstag auch beim EU-Gipfel fordern, so der Kanzler.
Make trade simple again: „Die Amerikaner sind relativ einfach darauf ausgerichtet, zu vier, fünf großen Industrien eine Vereinbarung mit uns zu treffen“, sagte Merz.
Als Beispiel verwies er auf das erste Teilabkommen zwischen den USA und Großbritannien. „400, 500, 600 verschiedene Zoll-Kodizes mit den Amerikanern zu verhandeln, ist der falsche Zeitpunkt zum falschen Thema“, so Merz.
Dazu gehören laut Merz die Auto-, Chemie-, Pharma- und Maschinenbauindustrie. Das sind „Bereiche, die für uns existenziell wichtig sind“. Hinzu komme Stahl und Aluminium. „Da brauchen wir jetzt ein schnelles Agreement mit den Amerikanern, und ich glaube, dass wir das erreichen können“, so Merz.
Lieber etwas Gutes, als gar nichts Perfektes. „Wir wollen nicht das Beste vom Besten. Wir wollen das Wichtigste vom Notwendigen“, forderte Merz.
Blick nach Brüssel: Das zielte auf EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič, der den Tag zu Gesprächen in Berlin war — und am Nachmittag beim BDI-Gipfel.
In der Pipeline: Auf einem POLITICO-Panel versprach Šefčovič, sich um die genannten Branchen zu kümmern. Bis Jahresende werde die EU zudem Handelsabkommen mit Indien, Indonesien und den Vereinigten Arabischen Emiraten abschließen und deutliche Fortschritte mit Malaysia und Australien erzielen.
In Brüssel befürchtet man, dass die Kommission ihre digitalen Regularien für solch einen Deal auflockern könnte, berichten meine Kollegen Camille Gijs, Francesca Micheletti, Douglas Busvine. Nichts sei in den laufenden Gesprächen vom Tisch, so der Tenor. Vor allem Europaabgeordnete sehen hierbei eine Bedrohung der EU-Tech-Regeln — Trump hatte diese in der Vergangenheit stark ins Visier genommen.
Šefčovič arbeitet daran, ein US-Handelsabkommen bis zum 9. Juli abzuschließen. „Und die Gespräche kommen voran“, sagte Šefčovič nach einem Treffen mit Klingbeil. Dabei seien mehr als 1.000 Zolltarifpositionen behandelt worden, sagte der slowakische EU-Kommissar.
Der Ausschuss lässt ihn sitzen: Abgeordnete des Wirtschafts- und Europaausschusses trafen sich am Montag mit Šefčovič. Der Kommissar tauchte verspätet auf, es war hektisch, heißt es von einem Teilnehmer. Doch nur etwa zehn Personen waren vor Ort. Die Einladung war am 3. Juni versandt worden, im Anhang (hier) ein Infoblatt, berichten Tom Schmidtgen und Laura Hülsemann.
Weiter geht‘s: Heute spricht Katherina Reiche auf dem Tag der Industrie darüber, wie die Wirtschaftswende konkret funktionieren kann. Auch ihre Ministerkollegen Dorothee Bär und Karsten Wildberger sprechen heute beim TDI.
DIE DEUTSCHE INDUSTRIE blickt pessimistischer auf die Konjunktur als die meisten Ökonomen. Der BDI erwartet, dass die Wirtschaft 2025 um 0,2 Prozent schrumpft — ein halber Prozentpunkt weniger als der Konsens.
Wie der BDI sieht das Ifo-Institut enorme Risiken in US-Zöllen. In einer neuen Simulation kommen die Ökonomen zu dem Ergebnis, dass das angedrohte US-Zollpaket die deutsche Industrie 2,8 Prozent Wachstum kosten könnte. Die deutschen Exporte in die USA würden um 38,5 Prozent zurückgehen. Die Autoindustrie müsse mit Wertschöpfungsverlusten bis zu sechs Prozent rechnen, die Pharmaindustrie könnte sogar neun Prozent verlieren.
INVESTITIONEN |
DAS BISSCHEN HAUSHALT: Das Kabinett will heute den Haushaltsentwurf beschließen — hier ist die Tagesordnung. Die Bundesregierung will die Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung stark erhöhen. Das wurde Rasmus Buchsteiner aus Kreisen des Bundesfinanzministeriums bestätigt.
Terminplan: Klingbeil gibt die Details spätestens während der Bundespressekonferenz um 10:30 Uhr bekannt. In den frühen Morgenstunden tagt das Kabinett.
Die Summe aller investiven Ausgaben soll in diesem Jahr auf 115,7 Milliarden Euro steigen — gegenüber 74,5 Milliarden Euro im vergangenen Jahr; ein Plus von 55 Prozent. 2026 sollen es 123,6 Milliarden Euro sein.
Aus dem neuen Schuldentopf sollen noch im laufenden Jahr knapp zwölf Milliarden Euro in Verkehrswege investiert werden. Vier Milliarden Euro sind für die Digitalisierung reserviert.
In die Verteidigung sollen in diesem Jahr 95 Milliarden Euro fließen, kommendes Jahr 118 Milliarden Euro und in vier Jahren 162 Milliarden Euro. Das entspricht etwa 3,5 Prozent des BIP. Zusammen mit 1,5 Prozent für zivile Infrastruktur wären das die fünf Prozent, die auf dem Nato-Gipfel beschlossen werden soll.
Den Bundesanteil beim Investitionsbooster beziffert Klingbeil bis 2029 mit 18,3 Milliarden Euro, den größten Anteil haben die degressiven Abschreibungen mit knapp zehn Milliarden Euro.
Auch zur Stabilisierung der Sozialversicherungen will die Bundesregierung in diesem Jahr erneut Milliardenbeträge bereitstellen, wie mein Kollege Jürgen Klöckner erfuhr. Demnach soll etwa der Gesundheitsfonds zur Stabilisierung des Beitragssatzes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein „überjähriges Darlehen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro“ erhalten.
Der Haushalt für das laufende Jahr soll im September vom Bundestag beschlossen werden, der Etat für 2026 dann Ende November. Für die Legislatur sind Rekordschulden von 846,9 Milliarden Euro geplant. Außerdem wollen Kanzler Merz und die Ministerrunde heute das 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz auf den Weg bringen.
INVESTITIONS-BOOSTER |
RINGEN UM DEN KOMPROMISS: Bis spät in die Nacht tagten gestern Bund und Länder, um eine Einigung im Streit um den Investitionsbooster zu finden. Es waren gute und konstruktive Beratungen, hört Rasmus Buchsteiner aus Regierungskreisen. Die Deutsche Presse Agentur berichtete in den frühen Morgenstunden von einer Einigung.
Die Einigung: Unternehmen sollen durch schnellere Abschreibungsmöglichkeiten und eine ab 2028 sinkende Körperschaftsteuer zum Investieren bewegt werden. Da Bund, Länder und Kommunen dadurch jedoch Milliarden verlieren dürften, sollen die Kommunen vollständig entschädigt und die Länder anteilig über Bundesmittel für Bildung und Krankenhäuser kompensiert werden.
EXPERTEN DÄMPFEN ERWARTUNGEN: In der öffentlichen Anhörung im Finanzausschuss haben Sachverständige weitere Maßnahmen gefordert, wie Tom beobachtete. Hier geht es zur Liste aller Geladenen.
Im aktuellen Paket fehlen Strukturreformen, mahnte Deborah Schanz vom Münchner Institut für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an. Außerdem kritisierte sie: Die Sonder-Abschreibung „verpufft völlig bei Unternehmen mit Verlusten, die investieren wollen“ — diese sollten auch steuerlich unterstützt werden.
Der Grund: Eine degressive Abschreibung hilft nur Unternehmen, die Gewinne machen und damit ihre Steuerlast drücken können.
Der Plan: Die Koalition plant ab Juli und bis Ende 2027 Unternehmen eine degressive Abschreibung von 30 Prozent zu gestatten. Ab 2028 soll die Körperschaftsteuer jährlich um einen Prozentpunkt auf 10 Prozent in 2032 sinken.
Bisher ließe sich nicht genau beziffern, wie groß der Effekt des Investitionsboosters sei, sagte Stefan Bach, Steuerexperte am DIW.
Wirtschaftsweise Veronika Grimm schaltete sich online dazu. Für sie ist vor allem die Steuersenkungen ab 2028 ein Wachstumstreiber. Aber auch sie dämpfte die Erwartungen: „Wir können nicht sagen, wir holen ein Wachstum wie vor zwanzig Jahren zurück.“
VERTEIDIGUNGSINDUSTRIE |
DEUTSCHE DOGE: BDI-Präsident Peter Leibinger regt an, das Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz abzuschaffen und durch eine neue Organisation zu ersetzen. Das sagte Leibinger beim Tag der Industrie in Berlin, wie Romanus Otte berichtet.
Leibinger verglich die Beschaffung der Bundeswehr mit dem Einkauf des Weltkonzerns DHL. Beide müssten ein ähnliches Einkaufsvolumen managen. Aber DHL habe dafür 600 Beschäftigte, die Koblenzer Behörde über 10.000.
Sozialverträgliches DOGE: „Ich könnte mir vorstellen, dass wir eine Art sozialverträgliches DOGE haben“, sagte Leibinger. Koblenz dürfe wie eine Bad Bank weiterarbeiten — „bis der letzte in den Ruhestand geht“. Er gestand, dass dieser Vorschlag „polemisch” sei.
KANADA UND EU SCHLIEßEN VERTEIDIGUNGSPAKT: Der kanadische Premierminister Mark Carney hat am Montag eine Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft mit der Europäischen Union unterzeichnet. Dies dürfte ein weitere Schritt in Richtung Unabhängigkeit von den USA sein.
Laut einer gemeinsamen Erklärung, die am Montagabend veröffentlicht wurde, werden die EU und Kanada an einem bilateralen Abkommen im Zusammenhang mit dem 150 Milliarden Euro schweren SAFE-Plan (Security Action for Europe) der EU arbeiten.
PERSONAL |
DIE HÄUSER FORMIEREN SICH: Die Ministerien von Patrick Schnieder und Carsten Schneider nehmen Form an. POLITICO liegen beide Organigramme vor.
Tabula Rasa macht Verkehrsminister Schnieder (hier). Nur drei Abteilungsleiter nimmt er aus der Vorgängerregierung mit — sechs neue ziehen in die Ebene ein.
Umweltminister Schneider ist zurückhaltender (hier). Er übernimmt sieben der Abteilungsleiter, die auch schon unter seiner Vorgängerin Steffi Lemke im Amt waren.
LIEFERKETTENGESETZ |
WENIGER IST MEHR: Die EU-Länder wollen die Zahl der Unternehmen verringern, die sich an die Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) halten müssen. Das geht aus dem jüngsten Entwurf für einen Kompromiss hervor, der Marianne Gros vorliegt (hier).
Die Details: Nur Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von mehr als 1,5 Milliarden Euro sollen demnach unter CSDDD fallen. Als die Richtlinie Juli vergangen Jahres in Kraft trat, lag der Schwellenwert für europäische Unternehmen bei 1.000 Beschäftigten und 450 Millionen Euro.
Der Effekt: Die Regelung würde damit nur noch sehr große Unternehmen treffen — insgesamt etwa 1.000 europäische Unternehmen. Den Mittelstand träfen die Berichtspflichten also nicht. Mehr dazu lesen Sie hier.
To be decided: Heute treffen sich die Europaminister in Luxemburg — wo sie höchstwahrscheinlich den Text unterstützen werden.
GREEN CLAIMS |
AUS FÜR GREENWASHING-GESETZ: Nachdem auch Italien seine Unterstützung entzogen hat, gibt es für die Green-Claims-Richtlinie keine Mehrheit mehr im EU-Rat. Die EU-Institutionen setzten ihre Verhandlungen aus. Das Schreiben Italiens an die Ratspräsidentschaft liegt meinen Kollegen Marianne Gros und Karl Mathiesen vor (hier).
EU-Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera kritisierte das Vorgehen. Verbraucher verdienten Respekt, schrieb sie auf der Plattform Bluesky. „Wir sollten ihr Vertrauen rechtfertigen und eine zuverlässige Information gewährleisten“, so Ribera.
Unterstützung: „Teresa steht, wie die gesamte Kommission, zu dem Vorschlag, der den Mitgesetzgebern vorgelegt wurde. Wir hoffen, dass wir eine Einigung erzielen können, um die Verbraucher so zu schützen, wie sie es verdienen“, sagte ein Beamter meinen Kollegen Karl und Marianne.
„Die Bundesregierung wartet momentan die Entscheidung auf europäischer Ebene ab“, heißt es aus dem Umweltministerium zu Laura.
MERCOSUR |
DER TRAUM VON SÜDAMERIKA: Vor einem halben Jahr wurden die Verhandlungen am EU-Mercosur-Abkommen beendet, inzwischen sind auch die juristischen Checks und die Übersetzung des Vertrags in die EU-Amtssprachen abgeschlossen.
Nun soll die Ratifizierung beginnen: Schon für Anfang Juli plant die EU-Kommission die Übermittlung des Vertragstextes an die EU-Mitgliedsstaaten, wie vier Diplomaten meinen Kollegen Hans von der Burchard und Camille Gijs berichten.
Als EU-only-Abkommen könnte der Handelsteil des Abkommens dann recht zügig mit qualifizierter Mehrheit ratifiziert werden — lediglich das Europaparlament müsste noch zustimmen.
Es wird erwartet, dass die Europäische Kommission den Text nach der Tagung des Europäischen Rates diese Woche an die Handelsdiplomaten weitergibt. Dies sagten drei EU-Beamte gegenüber Hans und Camille.
HEUTE WICHTIG |
— KONJUNKTUR: Um 10 Uhr veröffentlicht das ifo-Institut seinen Geschäftsklima-Index.
— DIGITALISIERUNG: Abends hält Karsten Wildberger eine Festrede beim Sommerfest des Bitkom.
Das war Industrie und Handel — das Wirtschaftsbriefing von POLITICO. Vielen Dank, dass Sie uns lesen und abonnieren. Bis zur nächsten Ausgabe!
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